S. Zala et al. (Hg.): Diplomatische Dokumente der Schweiz 1992

Cover
Titel
Diplomatische Dokumente der Schweiz 1992.


Herausgeber
Zala, Sacha; u.a.
Erschienen
Bern 2023: Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS)
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
open access
von
Liliane Stadler

Der Band Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS) zum Jahr 1992 reiht sich nahtlos in die DDS-Serie über die Jahre 1990 bis 1999 ein und baut somit auf dem aktuellsten Stand der Grundlagenforschung zur schweizerischen Zeitgeschichte auf. Die Dokumente dieser dritten Serie der DDS werden zeitgleich mit der Öffnung der Archivbestände publiziert, also auf den Tag genau nach Ablauf der 30-jährigen Schutzfrist für Archivgut des Bundes. Sie sind damit vielen Quellenpublikationen anderer Nationalsowie Privatarchive voraus und ermöglichen Forschenden, Studierenden und Interessierten, einen ersten Einblick in das Archivmaterial zur Schweizer Diplomatie der sogenannten «Post-Cold War Period» zu erhalten. Die Entstehungsgeschichte der unipolaren Weltordnung nach Ende des Kalten Krieges erlebt gegenwärtig in der Schweiz sowie auch international eine Neubewertung und hierbei spielt die Grundlagenforschung zu jenen Jahren eine tragende Rolle.

Die 62 ausgewählten Dokumente des neuen DDS-Bandes haben das Potential, zu den aktuellen öffentlichen und akademischen Debatten einen soliden, sachlichen Beitrag zu leisten. Sie stammen hauptsächlich aus dem Bundesarchiv und beinhalten Akten des Parlaments, der Regierung und der eidgenössischen Departemente. Jedes Dokument ist durch einen Permalink mit den Beständen der Online-Datenbank von Dodis verknüpft, wo Metadaten, Faksimile sowie weitere relevante Dokumente, die Findmittel und Klassifikationsvermerke der Originalquellen in den Archiven auffindbar sind. Insgesamt wurde die Datenbank im Verlauf des Auswahlverfahrens für den aktuellen Band um ganze 1700 Dokumente in allen Landessprachen ergänzt. Zu erwähnen sei zudem, dass sich die Datenbank auch auf Englisch bedienen lässt.

Zur Diskussion steht in Bezug auf den aktuellen Band besonders die Auswahl der 62 Quellen. Gemäss den Herausgebern wurden jene «aufgrund ihrer relativen Bedeutung in Bezug auf die Gesamtheit» der für den Band untersuchten aussenpolitischen Vorgänge ausgewählt.1 Insgesamt strebe der Band eine «breite und charakteristische, aber keineswegs lückenlose Dokumentation aussenpolitischer Ereignisse an.» 2 Vier Themenbereiche stechen bei der Lektüre der ausgewählten Dokumente besonders heraus. Treffenderweise widerspiegeln diese auch die wichtigsten aussenpolitischen Spannungsfelder, welche die damalige Schweizer Aussenpolitik besonders prägten. Es sind dies das Ende des Kalten Krieges in Europa, die Rolle der Schweiz in der multilateralen Diplomatie, die erneut aufkeimende Debatte um die Neutralität der Schweiz und vor allem die Verknüpfung von Innen- und Aussenpolitik durch das Mittel der direkten Demokratie.

So belegt der Band die Entscheidung des Bundesrates, die ehemaligen Republiken der 1991 aufgelösten Sowjetunion nicht nur rasch als unabhängige Staaten anzuerkennen, sondern diese auch mit Kreditgarantien zu unterstützen. Der Bundesrat schlug dem Parlament im Zeichen der Solidarität hierfür einen Zusatzkredit vom 600 Mio. Franken vor. 3 Nach dem Zerfall Jugoslawiens engagierte sich die Schweiz im Bereich der humanitären Hilfe, der Beobachtungsmissionen der KSZE und der UNPROFOR sowie durch die Beherbergung und Teilnahme an der internationalen Jugoslawienkonferenz in Genf. Im Zentrum des Schweizer Engagements dieser Zeit stand die zwischenstaatliche Solidarität im Rahmen der Schweizer Neutralität. Schwieriger hingegen schienen für die offizielle Schweiz damals Bekundungen der Solidarität mit ehemaligen jugoslawischen StaatsbürgerInnen, die aufgrund der andauernden Kriegshandlungen als Saisonniere, Asylbewerbende oder als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz weilten. Die Frage, «[w]elche Personen kann man zurückschieben?», wurde in diesem Zusammenhang oft diskutiert und es handelt sich hierbei um eine Thematik in der Schweizer Geschichte, die noch lange nicht aus allen Gesichtspunkten diskutiert worden ist 4 Besonders in diesem Bereich könnten weitere Forschungen neue Erkenntnisse generieren.

Für richtungsweisende Diskussionen zwischen Innen- und Aussenpolitik sorgten im Jahr 1992 zudem die Abstimmungen über den Beitritt der Schweiz zu den sogenannten Bretton Woods Institutionen – der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IMF) – sowie zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Ersterem stimmten Volk und Stände im Mai 1992 zu. Letzterer wurde im Dezember jedoch von 50,3 Prozent der Stimmenden abgelehnt. Dabei handelte es sich um eine Niederlage mit grossem Nachhall für den Bundesrat. In einer zunehmend multilateralen Welt musste die Schweiz – wie auch schon zu Beginn des Kalten Krieges – erneut innovative Mittel und Wege finden, um ihre nationalen Interessen zu gewährleisten und ihre Rolle als permanent neutraler Staat in einem stets dynamischen internationalen Umfeld zu definieren.

Dies tat sie unter anderem beim Helsinki-Gipfel der KSZE, der 1992 im Zeichen des Krieges in Bosnien und Herzegowina sowie den kriegerischen Auseinandersetzungen in Bergkarabach, Transnistrien und Abchasien stand. Dies gelang auch beim Treffen der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro. Die Schweiz beteiligte sich ferner tatkräftig an der noch heute wegweisenden «Agenda 21» zur nachhaltigen Entwicklung. Zudem schloss sich die Schweiz den vom UNO-Sicherheitsrat aufgrund des sogenannten Lockerbie-Anschlags beschlossenen Sanktionen gegen Libyen an. Seit dem Grundsatzentscheid zur Übernahme von nichtmilitärischen Sanktionen des UNO-Sicherheitsrates gegenüber dem Irak vom 7. August 1990 begann für die Schweizer Aussenpolitik eine neue Praxis im Umgang mit dem internationalen Völkerrecht und bei der Interpretation der Neutralität der Schweiz. Beide Themen haben in der Schweiz zu langanhaltenden innen- und aussenpolitischen Auseinandersetzungen geführt, die bis heute andauern.

Wie auch zu Beginn des Kalten Krieges war die Aussenpolitik der Schweiz nach dessen Ende gemäss Sacha Zala und Thomas Bürgisser darauf bedacht, einen «Bruch mit der bisherigen schweizerischen Neutralitätspolitik» zu verhindern.5 Der Band zeigt in dieser Hinsicht auf, wie 1992 innerhalb des EDA und EMD nicht nur die neutralitätspolitisch neue Praxis der Übernahme von nichtmilitärischen Sanktionen, sondern ebenfalls eine künftige Partizipation beim Verteidigungsbündnis NATO debattiert wurde.6 Im Oktober 1992 fand diesbezüglich in Bern ein informeller Meinungsaustausch unter den Verteidigungsministern Österreichs, Schwedens, Finnlands und der Schweiz statt. Doch es zeichnete sich wie auch schon bei bisherigen Treffen eine fehlende Motivation zu engerer Zusammenarbeit unter den Neutralen ab. So belegt DDS 1992, «[d]ass die Neutralität von den vier teilnehmenden Staaten nicht mehr als gemeinsame Basis für politisches Handeln» betrachtet wurde (S. XL). Schweden bekannte sich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr als neutral.

Somit trifft der aktuelle Band der DDS-Reihe 1990 bis 1999 nicht nur den Nerv der damaligen, sondern auch den der heutigen Zeit. Zeitgleich mit der Öffnung der Schweizer Archivbestände des Jahres 1992 liefert DDS 1992 eine treffende Themenauswahl an Primärquellen mit einem hohen Aktualitätsbezug. Das Ende des Kalten Krieges, die Bedeutung der multilateralen Diplomatie, die Rolle der Neutralität in der Schweizer Aussenpolitik sowie die Beziehung zwischen Innen- und Aussenpolitik beschäftigen Forschende, Studierende und PolitikerInnen und Politik-Interessierte bis heute. Die Herausforderung jener, die sich mit dem aktuellen Band vertieft auseinandersetzen, wird darin bestehen, die weniger prominenten Themenfelder des Bandes hervorzuheben, sei dies in Form neuer Forschung, von Seminararbeiten oder im öffentlichen Diskurs. Die zunehmend interaktive Gestaltung der DDS-Reihe ist geradezu eine Aufforderung dazu.

Anmerkung:
1 DDS, Bd. 1992, S. XIV.
2 Ebd.
3 Ebd.; Dok. 10, dodis.ch/61060.
4 DDS, Bd. 1992, S. XLVIII.
5 Ebd.
6 Ebd., Dok. 34, dodis.ch/61955.

Zitierweise:
Stadler, Liliane: Rezension zu: Zala, Sacha et al. (Hg.): Diplomatische Dokumente der Schweiz 1992, Bern 2023. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 429-429. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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